Vom ukrainischen Mariupol führt uns der dritte Teil des gemalten Kriegstagebuchs im Herbst 1942 noch weiter in den Süden, in den russischen Kaukasus. An dieser Stelle geht erneut ein herzlicher Dank an die privaten Sammler und die Kunstsammlungen Zwickau – Max Pechstein Museum (Sammlung Friedbert Ficker) für die Ermöglichung der Veröffentlichung der Arbeiten.
6. Region Krasnodar (Südrussland) – Malamino im Kuban-Gebiet (11./12. Sept. 1942)
In Folge der Sommeroffensive der deutschen Wehrmacht mit dem Ziel der Ölfelder im Kaukasus gelangte Max Schneider, der mindestens bis zum 5. September 1942 in Mariupol stationiert war, vermutlich über Rostow am Don zunächst in das südrussische Kuban-Gebiet, das nach dem gleichnamigen Fluss in der Region Krasnodar benannt ist. Ausweislich einer Skizze (Lfd. Nr. 331) übernachtete Schneider in dem kleinen Ort Malamino am Kuban südöstlich der Stadt Armawir in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1942.
7. Region Stawropol (Südrussland) – Jessentuki und Schelesnowodsk im Kaukasus (Sept./Okt. 1942)
Mindestens vom 13. September bis zum 10. Oktober 1942 lässt sich Schneiders Aufenthalt aktuell in der für ihre Mineralwasserquellen bekannten Region Stawropol belegen. Rund um den mächtigen Berg Beschtau fertigte er zahlreiche Skizzen und Aquarelle in den Kurorten Jessentuki und Schelesnowodsk an, die mit Pjatigorsk und Kislowodsk zu den Kaukasischen Mineralbädern zählen.
Im heute zur Großstadt angewachsenen Jessentuki (auch Essentuki) hielt Schneider die zumeist recht einfache Holzarchitektur im reizvollen Kontrast zu dem monumentalen Hausberg fest, dem fünf Kuppen zählenden Beschtau, nach dem das benachbarte Kurbad Pjatigorsk (fünf Berge) benannt wurde. Auf den Aquarellen ist immer wieder das heute wohl älteste erhaltene Gebäude der Stadt zu sehen, die 1826 von den aus dem Tessin stammenden Gebrüdern Giovanni und Giuseppe Bernardazzi komplett aus Holz errichtete Nikolaikirche (Lfd. Nr. 334, 342, 343, auch 337 und 338). Im Jahr 1942 vermutlich in der ursprünglichen Farbgestaltung mit heller Fassade und dunklem Dach gemalt, erinnert ihre Verwandlung an die der Mariä-Geburt-Kathedrale im ukrainischen Proskurow (Chmelnyzkyj), vgl. dazu den vorhergehenden Beitrag und die Lfd. Nr. 104. Wie diese ist die Nikolaikirche in Jessentuki heute in einem leuchtenden Himmelblau mit weißen Akzenten gefasst.
Die Familie Bernardazzi brachte eine ganze Reihe von Architekten hervor, die vor allem im Russischen Zarenreich wirkten. Giovanni und Giuseppe waren vor ihrer Mission im Kaukasus mit weiteren Brüdern am Bau der Isaakskathedrale in St. Petersburg beteiligt. Den Kurorten im Kaukasus, insbesondere Kislowodsk und Pjatigorsk, gaben die Bernardazzi erst ihr Gesicht. Neben Badeanstalten und Parkanlagen zählte auch die Entwicklung der notwendigen Ingenieurbauwerke zu ihren Projekten. Giuseppes Sohn Alexander ist heute vielleicht der berühmteste Architekt der Familie und errichtete nach seiner Kindheit im Kaukasus und der Ausbildung in St. Petersburg zahlreiche öffentliche Gebäude vor allem im sogenannten neomaurischen Stil insbesondere in Chișinău (Moldau) und Odessa (Ukraine), ausführlicher zum Ganzen der Beitrag von Alla Chastina, The well-known architect Alexander Iosifovich Bernadazzi (1831-1907) (on the occasion of the 190th anniversary), Dialogica. Revistă de studii culturale și literatură, 2021, Nr. 1, S. 24-31.
Nordöstlich von Jessentuki liegt am Fuße des Beschtau der kleine Kurort Schelesnowodsk, etwa auf halber Strecke nach Mineralnyje Wody, wo die Hauptbahnlinie Rostow-Baku verläuft und ein größerer Flugplatz vorhanden ist. In Schelesnowodsk, das seinen Namen von den eisenhaltigen Mineralquellen erhalten hat (wie Kislowodsk nach sauren und das ursprünglich Gorjatschewodsk genannte Pjatigorsk nach heißen Mineralquellen), schuf Max Schneider vor allem Panoramen des imposanten Berges Beschtau (Lfd. Nr. 353, 355) sowie des markanten Medowaja (Honigberg), der die Form eines Bienenkorbs hat (Lfd. Nr. 345, 351, 352). Ihm gelingt hier einmal mehr die Schönheit der Natur und der regionalen Architektur zu einem harmonischen Gesamtbild zu vereinen.
Es ist wahrscheinlich, dass Schneider auf einem kleinen Flugfeld stationiert war, das bis heute am nördlichen Stadtrand von Jessentuki als einfache Graspiste existiert. Mit seinen Stationen deckt sich die Angabe, dass im Oktober 1942 der Stab des Luftflottenkommandos 4 von Mariupol nach Jessentuki verlegt worden sein soll, vgl. die Aussage von Generalmajor Karl Heinrich Schulz, in: Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal – Nuremberg 14 November 1945 – 1 October 1946, 1949, Vol. XLII, Documents and other material in evidence, Col. Neave Report to Affidavit SS-87, S. 241.
Wie bereits an den Kriegsschauplätzen in Polen und in der Ukraine ist auch für Schneiders Arbeiten aus dem Kaukasus der Fokus auf scheinbar unberührte idyllische Landschaften bei gleichzeitiger kompletter Ausblendung des Krieges charakteristisch. Max Schneider erreichte die Kaukasischen Mineralbäder nur wenige Tage nachdem die ehemalige Sommerfrische der Petersburger Aristokratie am Fuße des Kaukasus zur tödlichen Falle für tausende jüdische Flüchtlinge, darunter viele Evakuierte aus Leningrad, geworden war. Neben einigen hundert einheimischen Juden fanden hier tausende den Tod, die erst im Winter 1941/42 über den zugefrorenen Ladogasee aus dem belagerten Leningrad evakuiert und so vor dem Verhungern gerettet worden waren. Evakuiert wurden die Angehörigen ganzer Universitätsinstitute, näher dazu Kiril Feferman, A Soviet Humanitarian Action?: Centre, Periphery and the Evacuation of Refugees to the North Caucasus, 1941-1942, Europe-Asia Studies, Vol. 61, 2009, S. 813-831, insbes. S. 818. Vom 7. bis zum 10. September 1942 wurden die über 3.300 jüdischen Bewohner von Kislowodsk, Jessentuki und Schelesnowodsk gesammelt und per Zug oder Lastwagen zu einem Panzergraben etwa einen Kilometer vom Glaswerk in Mineralnyje Wody gebracht und dort erschossen oder in Lastwagen vergast, vgl. hierzu die von Viktor Schklowski zu Kislowodsk und Ilja Ehrenburg zu Jessentuki zusammengestellten Berichte, in: Wassili Grossmann/Ilja Ehrenburg/Arno Lustiger (Hrsg.), Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, 1994, S. 420-428, sowie die leicht abweichenden Angaben bei Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord – Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, 2003, S. 617-619. Sanatorien wurden als Erholungsheime für die SS und die Wehrmacht beschlagnahmt, näher hierzu insbes. in Kislowodsk Andrej Angrick, a.a.O., S. 644 ff.
Zumindest indirekte Hinweise auf die sich verschlechternde Versorgungslage an einem der entlegensten Frontabschnitte lassen sich Schneiders Bildern doch entnehmen. Aquarelle in sehr blassen, stark verdünnten Farben, die teilweise schlechte Qualität des Papiers und dessen vermehrte doppelseitige Nutzung deuten auf die Beschränkung von Schneiders künstlerischer Arbeit durch die allgemeine Materialknappheit hin. Die gleichwohl verhältnismäßig große Anzahl von Werken hängt damit zusammen, dass er etliche Motive noch Jahrzehnte nach dem Krieg mehrfach in verschiedenen Techniken malte. Die Landschaft faszinierte ihn und es kann angenommen werden, dass sich diese Ansichten auch gut verkaufen ließen.
Im Moment lässt sich mangels datierter Arbeiten aus dem Zeitraum nicht sicher sagen, wo sich Max Schneider zwischen Mitte Oktober 1942 und Mitte Januar 1943 aufgehalten hat. Nach dem 10. Oktober 1942 gibt es aktuell eine Lücke im Werkverzeichnis bis zum 20. Januar 1943. Dieses Datum findet sich auf einem Aquarell, das im südrussischen Taganrog, zwischen Rostow und Mariupol, entstanden sein soll. Nach dem Rückzug aus dem Kaukasus folgt eine längere Stationierung in der Zentralukraine, doch dazu mehr im vierten Beitrag des gemalten Kriegstagebuchs.
Alle neu eingestellten Arbeiten mit den Lfd. Nrn. 331-359 finden Sie hier im Werkverzeichnis.